Die Bedeutung der Atmung I

Mir gefallen Artikel über die neuesten Trainingsprogramme, Nahrungsergänzungsmittel oder Tagesabläufe von erfolgreichen Menschen. Ich finde nichts Schlechtes an der Horizonterweiterung durch Lesen über die Verbesserung des Wohlbefindens. Und manchmal kann es sogar sinnvoll sein, ein kleines Gadget zum Check von verschiedenen Körperfunktionen, wie Blutdruck, Herzfrequenzrate oder Schlaf zu verwenden. Aber umso mehr wir uns auf diese Helferlein verlassen, desto mehr vergessen wir auf das wichtigste Werkzeug überhaupt. Es ist eines von zwei unbewussten Abläufen in unseren Körpern, die wir bewusst steuern können: unsere Atmung.

Atmung und Kohlendioxid

Wir atmen Luft über die Luftwege in unsere Lungen ein. Sauerstoff (O2) wird dort absorbiert, in die Blutbahn transferiert und in die Zellen transportiert. Dieses Gas wird in unserem aeroben Stoffwechsel zur Energiegewinnung benötigt. Wasser und Kohlendioxid (CO2) entstehen als Nebenprodukte. Aber Kohlendioxid ist nicht schlicht ein Abfallprodukt, das bei der Ausatmung aus dem Körper transportiert wird. Es ist wesentlich daran beteiligt, wie stark das Sauerstoffmolekül am Hämoglobin gebunden ist und wie viel Sauerstoff an die Zellen abgegeben werden kann. Folglich ist eine Balance beider Gase für das effiziente Funktionieren des Körpers wesentlich.

Niedrige Kohlendioxid-Werte

Die Hauptursache für ein niedriges Niveau von CO2 im Blut wird mit Hyperventilation oder Überatmung in Verbindung gebracht. Wir atmen dabei mehr als nötig. Folglich wird mehr Kohlendioxid aus dem Körper geleitet. Die Folge ist, dass zu wenig Sauerstoff in die Zellen gelangt, obwohl die Sauerstoffsättigung im Blut hoch ist. Wenn wir laufend überatmen, können chronisch niedrige Kohlendioxidwerte die Folge sein. Unser Körper stellt sich auf ein neues Gleichgewicht ein und wir werden zusehends CO2-intoleranter. Das bedeutet, dass „wir eine gesunde CO2-Dosis, die eigentlich die Sauerstoff-Infusion optimiert, nicht bewältigen können“, wie in diesem Artikel erklärt wird.

Foto von Motoki Tonn auf Unsplash.

Warum überatmen wir?

Experten im Bereich der Atmung, wie Patrick McKeown, Brian MacKenzie und James Nestor, kommen überein, dass viele Menschen ein natürliches Atmungsmuster verlernt haben. Wir sind dazu gemacht, hauptsächlich durch die Nase zu atmen. Es gibt zwar Aktivitäten, die eine Mundatmung indizieren, wie zum Beispiel beim Sprechen oder Schwimmen. Die meisten Zeit sollten wir jedoch durch die Nase atmen.

Warum atmen wir durch den Mund?

Neben einigen physiologischen Faktoren wie die Entwicklung des Kiefers und der Luftwege im Allgemeinen, spielt das Stresslevel eine große Rolle. Unsere Körper können eine große Menge an Stress bewältigen, in dem sie eine Kampf- oder Fluchtreaktion auslösen, die unser Überleben sichern soll. Die Betonung liegt auf Überleben. Wir liefern uns so vielen modernen Stressfaktoren wie Deadlines, Familienangelegenheiten, heftige Arbeitsbelastungen, etc. und so wenigen wirklichen Gefahren aus. Unsere Körper reagieren jedoch auch auf diese modernen Stressfaktoren wie sie reagieren sollen. Wir wechseln zur flachen Mundatmung, der Körper erhöht die Herzfrequenz und mehr Blut wird in die Gliedmaßen gepumpt, um im Ernstfall kämpfen oder flüchten zu können.

Foto von Luis Villasmil auf Unsplash.

Diese modernen Gefahren spielen sich allerdings nur als Geschichte, die wir uns selbst erzählen, in unserem Kopf ab. Sie sind nicht lebensgefährlich. Trotzdem sendet unsere Wahrnehmung Stresssignale zum Gehirn und die Kommandozentrale setzt unseren Körper in Alarmzustand. James Nestor spricht in diesem Zusammenhang auch von „Email Apnoe„: das Gefühl, wenn man in seiner Inbox 30 neue Nachrichten findet, unbewusst den Atem anhält und damit einen Alarmzustand auslöst. Stress und Mundatmung beeinflussen und verstärken sich somit. Was können wir stattdessen tun?

Nasenatmung

Statt einer flachen und schnellen Atmung durch den Mund, die mit der oberen Brust in Verbindung steht, bietet die Wiederentdeckung der Nasenatmung immense Vorteile.

„By changing the way in which you breathe you can actually change how your mind is processing thoughts and feelings and emotions.“

James Nestor

Die menschliche Nase nimmt ungefähr 30 Funktionen in unserem Körper wahr. In der Atmung filtert, befeuchtet und erwärmt sie die Luft, bevor diese in unsere Lungen gelangt. Daneben zielt die Nasenatmung auf eine Bewegung des Zwerchfells ab. Dieser Muskel teilt den Brustkorb vom Unterbauch und spielt eine zentrale Rolle in unserer Atmung. Zusätzlich zu den Atemfunktionen fungiert das Zwerchfell als Stabilisator der Wirbelsäule und unterstützt unser Lymphsystem.

Neben der Tatsache, dass wir unsere Lungen ungefilterter Luft aussetzen, wenn wir nicht durch unsere Nase atmen, lockern wir auch unser Rachengewebe, was uns anfälliger für Schnarchen und Schlafapnoe macht. Darüber hinaus ermöglicht eine langsame, tiefe, ruhige Nasenatmung den Transport einer höheren Menge an Sauerstoff in unsere Zellen. Erinnern Sie sich an die Rolle des CO2?

„The human is the only animal who does not know what the nose is for.“

Patrick McKeown

Nasenatmung und Gesundheit

Neben einer effizienteren Sauerstoffverwendung reduziert die Nasenatmung den Feuchtigkeitsverlust gegenüber der Mundatmung um bis zu 40%. Sie trägt auch zur Zahngesundheit bei. Wir sind bei der Mundatmung anfälliger für Bakterien, Zahnfleischproblemen und Karies. Und unsere Lippen werden trockener.

Außerdem fordern konstant niedrige Kohlendioxidwerte zusammen mit einer Sauerstoffunterversorgung und chronisch hohen Stressniveaus weiteren Tribut. Schlafprobleme, wie Schnarchen, Schlafapnoe und das Fehlen von Tiefschlafphasen können weitreihende negative Folgen haben. Das Fehlen eines ruhigen, tiefen Nasenatmungsmusters steht in Verbindung mit Erkrankungen wie Angst- und Panikattacken, Depression, verminderte Stressfähigkeit, Verdauungsproblemen, Fettleibigkeit, Asthma, metabolisches Syndrom und sogar Parkinson.

Für all diese Krankheitsbilder wurden positive Effekte der Nasenatmung entdeckt und durch wissenschaftliche Studien bestätigt. Warum also schenken wir dem leistungsfähigsten Werkzeug unserer Gesundheit und unseres Wohlbefindens so wenig Beachtung?

Foto von Dunamis Church auf Unsplash.

Bewusstsein aufbauen

Gemäß Brian MacKenzie ist „von-außen-nach innen unser Standardmodus geworden“. Anstatt unser Bewusstsein an die erste Position zu stellen und von innen nach außen zu schauen, lassen wir uns von vielen Äußerlichkeiten beeinflussen. Wir sind in unserem täglichen Leben so abgelenkt, dass wir möglicherweise die Verbindung zu unserem inneren Kompass verloren haben. Es könnte helfen, wieder genauer auf unsere Körper zu hören. Ebenfalls hilfreich ist die Erkenntnis, dass die Lösung darin liegt, die innere Ruhe wiederzufinden und zu unseren Wurzeln in der Natur zurückzukehren. All das können wir bewerkstelligen, wenn wir mit einer täglichen Atemübung beginnen.

„What you are feeling is allowing you to really experience life!“

Brian MacKenzie

Reiz und Reaktion

Es rentiert sich, unsere Konzentration wieder auf das zu richten, was wir kontrollieren können. Brian MacKenzie nennt dies Reiz-Reaktion-Zyklen. In einer Notsituation aber auch im Alltag zahlt es sich aus, sich mittels einer Atemübung zu beruhigen, nachzudenken und dann die Reaktion aktiv zu wählen. Verwerfen Sie einfach die komplette Geschichte (die Gedanken über Angst – Ihre innere Erzählung also) und überlegen Sie nur, wie Sie die Situation verbessern können.

“Zwischen Reiz und Reaktion gibt es einen Raum. In diesem Raum haben wir die Freiheit und die Macht, unsere Reaktion zu wählen. In unserer Reaktion liegen unser Wachstum und unsere Freiheit.”

Viktor Frankl

Er fährt damit fort, dass unser Sehen der zweite autonome Prozess neben unserer Atmung ist, den wir kontrollieren können. Darum ist es wichtig, in stressigen Situation einen Schritt zurückzutreten, einige tiefe Atemzüge zu nehmen und zu beobachten, wie unser Sehen weniger fokussiert dafür aber offener für das große Ganze wird. Steven Kotler spricht in diesem Podcast ebenfalls von einem „Panorama-Sehen“ als eine Technik zur Stressreduktion.

Wie soll man starten?

Wenn Sie am Morgen mit einem trockenen Mund aufwachen, ist es sehr wahrscheinlich, dass Sie durch den Mund atmen. Wenn Sie unsicher sind, beginnen Sie mit einer Bewusstseinsübung für Ihre Atmung. Horchen Sie in sich hinein und beobachten Sie Ihre Atmung und die Bewegung des Zwerchfells. Ein verspanntes Zwerchfell wird Ihnen eine Menge über Ihren Gemütszustand sagen. Die Folge könnte sein, dass Sie einige stressreduzierende Übungen wie langsame, tiefe Nasenatemzüge und Meditation durchführen.

Foto von Danielle-Macinnes auf Unsplash.

Es ist kein Zufall, dass die meisten Meditationsübungen mit einer Atemübung beginnen. Ein weiterer Tipp besteht darin, ein paar tiefe Atemzüge durch die Nase zu machen, bevor Sie sich dem Essen widmen. Dies startet unser parasympatisches Nervensystem, beruhigt uns und bereitet unsere Sinne auf das Essen und unsere inneren Organe auf die Verdauung vor. Und es ist ebenfalls kein Zufall, dass viele Menschen weltweit, unabhängig ihrer Religionszugehörigkeit, ihr Essen mit einem kurzen Gebet beginnen. Wir wissen seit tausenden von Jahren instinktiv um die Magie der Atmung. Darum sollten wir einfach wieder die innere Stärke dieser Körperfunktion anerkennen und bewusst erleben.

Ausblick

Im zweiten Teil konzentriere ich mich auf einige spezifische Atemübungen und weitere interessante Aspekte, die helfen können, unsere Atmung in einem breiteren Zusammenhang zu verstehen. In der Zwischenzeit folgen Sie einfach Dr. Chatterjee’s Ratschlag: „Atmen ist Information„.

Blogpostfoto von Kyndall Ramirez auf Unsplash.

Dieser Artikel basiert auf den Arbeiten von Dr. Ragan Chatterjee und seinen Podcast-Gästen Patrick McKeown, Brian MacKenzie and James Nestor. Ich bin mir bewusst, dass ich einige inhalte nicht wie in einem wissenschaftlichen Artikel zitiert habe. Dies wurde bewusst so gemacht, um das Leseerlebnis nicht zu beeinträchtigen. Bitte finden Sie unterhalb Links zu den drei Postcast-Episoden. Sie werden dort alle relevanten Links zu den Arbeiten der Experten finden.
Podcast Episoden mit Brian MacKenzie, Patrick McKeown und James Nestor.

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